Überblick über die Strafprozessordnung (StPO)

Bedeutung, Grundsätze und Systematik der StPO

 

 

I. Die Bedeutung der Strafprozessordnung

 

Enorme Errungenschaften des Rechtsstaats konzentrieren sich in der Strafprozessordnung. Es gilt das absolute Verbot der Folter, der Inhaftierung ohne Grund, der Inhaftierung ohne Überprüfung durch ein unabhängiges Gericht, des Zwanges an der eigenen Überführung mitzuarbeiten. Anklagende und urteilende Instanz sind getrennt, die Zuständigkeit des Richters wird abstrakt vorbestimmt, kein befangener Richter darf an einer Entscheidung mitwirken. In der StPO wird der Begriff der Rechtsstaatlichkeit konkret. Ihre außergewöhnliche Bedeutung ist nicht zu überschätzen. Das Gesetzeswerk schützt gemeinsam mit der Verfassung gegen Staatsunrecht und Willkür und steht fundamental für einen gerechten und befriedenden Umgang mit dem Phänomen Verbrechen. Reformen an diesem Gesetzeswerk sind darum genau bzgl. Motivation, Notwendigkeit und Geeignetheit zu überprüfen.

 

Entscheidend für das Verständnis eines Strafverfahrens in einem Rechtsstaat ist, dass dieses nicht nur und um jeden Preis auf die Überführung des Täters einer Straftat zielt. Selbstverständlich ist die Wahrheitsermittlung und das daraus resultierende Finden einer gerechten Entscheidung, durch welche nach Rechtskraft Rechtsfrieden eintreten kann, zentrales Ziel eines Strafverfahrens. Allerdings ist auch die Rechtsstaatlichkeit für sich Verfahrensziel. Es gelten Regeln und Grenzen hinsichtlich dessen, was mit einem Menschen getan werden darf, der Beschuldigter oder Angeklagter ist. Letzte Grenze, sogar für den rechtskräftig Verurteilten, ist immer die Menschenwürde. Darum aber ist ein Freispruch mangels der Möglichkeit einen Beschuldigten oder Mitwisser zu foltern, um zu erfahren, wo sich vermutete Beweismittel befinden, die für die Überführung benötigt würden, kein Fehlschlag oder keine Niederlage, sondern eine erfolgreiche Durchsetzung der Rechtsstaatlichkeit.

 

Die Wahrheitsermittlung zielt im Übrigen nicht nur auf die Überführung eines mutmaßlichen Täters, sondern soll zugleich Unschuldige vor falschen Verurteilungen schützen.

 

Anders als der Name des Gesetzeswerkes vermuten lassen könnte, behandelt die Strafprozessordnung nicht nur das eigentliche Verfahren vor Gericht gegen einen Angeklagten. Vielmehr wird das gesamte Strafverfahren vom ersten Moment des Ermittlungsverfahrens an bis hin zur Vollstreckung einer ggf. am Ende einer Hauptverhandlung verhängten, rechtskräftig gewordenen Strafe erfasst. Es finden sich Aufgaben, Rechte und Schranken schon für die ersten Verhaltensweisen von Polizei und Staatsanwaltschaft bei Verdacht einer Straftat. Ebenfalls sind weit über die Hauptverhandlung gegen einen Angeklagten hinaus auch Wiederaufnahmeregelungen, Vollstreckungsregelungen, Opferschutzregelungen usw. enthalten. Tatsächlich wird nur ein Bruchteil der bekannt gewordenen Straftaten in einer öffentlichen Hauptverhandlung abgeurteilt. Ein Großteil dieser Fälle wird durch die Staatsanwaltschaft (ggf. mit Beteiligung des Gerichts) erledigt, welche verschiedene Möglichkeiten hat, Strafverfahren „einzustellen“.  Dies betrifft Fälle, in denen kein hinreichender Tatverdacht besteht, wenn eine Tat verjährt ist, wenn kein Täter ermittelt werden konnte, wenn es sich um eine Lappalie eines Ersttäters handelt oder wenn die Erfüllung einer bestimmte Auflage als ausreichend angesehen wird, um das öffentliche Interesse an weiterer Strafverfolgung zu beseitigen.

 

Das Strafverfahren wird nicht nur durch die Strafprozessordnung geprägt. Wesentlich sind auch das über allen anderen deutschen Rechtsnormen stehende Grundgesetz (GG), das Gerichtsverfassungsgesetz (GVG) sowie das Jugendgerichtsgesetz (JGG).

 

Zunehmend wird das Strafverfahren durch internationale Normsetzung geprägt. Neben der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), der national der Rang eines Bundesgesetzes zukommt, gilt dies grundsätzlich für das Recht der Europäischen Union und das Völkerrecht.

 

Zu beachten sind ferner die bundesweiten Verwaltungsvorschriften „Richtlinien für das Strafverfahren und das Bußgeldverfahren“ (RiStBV), die „Anordnung über Mitteilungen in Strafsachen“ (MiStra) sowie die „Anordnung über Organisation und Dienstbetrieb der Staatsanwaltschaften“ (OrgStA).

 

 

II. Die Grundsätze des Strafverfahrens

 

Zahlreiche Grundsätze prägen die Strafprozessordnung. Teilweise finden sich diese ausformuliert in Einzelvorschriften, teilweise „schweben“ sie über den Normen, sind aber für die Auslegung von Einzelvorschriften entscheidend. Die Auslegung der Einzelvorschriften muss außerdem höherrangigem Recht, dem Grundgesetz entsprechen, was bzgl. des stark in die Rechte von Menschen eingreifenden Strafverfahrens von besonderer Bedeutung ist.

 

Die Strafverfolgung obliegt allein dem Staat, nicht dem Bürger und sie hat auch unabhängig vom Willen eines Tatopfers zu geschehen (Offizialprinzip).

 

Die Staatsanwaltschaft und die Polizei müssen – ohne Ansehen der Person – bei zureichenden Anhaltspunkten für eine Straftat stets Ermittlungen einleiten. Ergibt sich aus den Ermittlungen ein hinreichender Tatverdacht, so hat die Staatsanwaltschaft Anklage zu erheben (Legalitätsprinzip).

 

Die Anklage ist Voraussetzung dafür, dass überhaupt eine Gerichtsverhandlung stattfinden darf (Akkusationsprinzip). Der Inquisitionsprozess vergangener Jahrhunderte, bei dem der Richter in Personalunion ermittelte und urteilte, was seine Voreingenommenheit beförderte, ist unzulässig.

 

Es besteht ein gesetzlicher Richter, dem niemand entzogen werden darf. Ausnahmegerichte sind unzulässig. Dies bedeutet, dass der Fall nicht durch einen Richter entschieden werden darf, der sich gerade für diese Art Fälle oder Beschuldigte interessiert. Die Zuständigkeit ist vielmehr vorab  objektiv und abstrakt bestimmt (Grundsatz des gesetzlichen Richters). Das zuständige Gericht hat sodann in einer öffentlichen Hauptverhandlung statt in einem Geheimprozess ein Urteil zu finden (Öffentlichkeitsgrundsatz). Es hat dabei den Sachverhalt von Amts wegen zu erforschen, darf sich also nicht darauf beschränken, nur das aufzuklären, was etwa die Staatsanwaltschaft oder der Beschuldigte mittels Beweisanträgen an Verfahrensstoff einbringen. Bei der Wahrheitsfindung unterliegt das Gericht nicht mehr festen Beweisregeln wie „aus zweier Zeugen Mund wird stets die Wahrheit kund“ oder gar bestimmter Gottesbeweise. Vielmehr gilt der Grundsatz freier richterlicher Beweiswürdigung. Dies bedeutet auch, dass das Gericht nicht gezwungen ist, einem Geständnis oder dem Ergebnis eines Sachverständigengutachtens zu folgen. Nur gegen die Regeln der Logik darf das Urteil nicht verstoßen, die Beweiswürdigung darf nicht widersprüchlich, unklar oder lückenhaft sein. Entscheidend ist im heutigen Strafprozess die persönliche Überzeugung des Richters von der Schuld des Angeklagten. Bei Zweifeln an der Schuld ist eine Verurteilung nicht möglich (In-dubio-pro-reo-Grundsatz).

 

In der Hauptverhandlung gilt das Mündlichkeitsprinzip. Gegenstand des Urteils darf nur werden, was zuvor mündlich verhandelt wurde. Es darf nicht einfach auf Grundlage der Akten entschieden werden. Selbst Urkunden müssen grundsätzlich verlesen werden. Das Gericht muss die Beweise selbst erheben und darf beispielsweise nicht eine Zeugenaussage durch Verlesung eines polizeilichen Vernehmungsprotokolls ersetzen (Unmittelbarkeitsprinzip).

 

Der Beschleunigungsgrundsatz gebietet, ein Strafverfahren so schnell wie möglich durchzuführen, so dass zwischen Kenntnis des Ermittlungsverfahrens durch den Beschuldigten und rechtskräftiger Entscheidung nicht beliebig lange Zeit liegt. In der besonders belastenden Untersuchungshaftsituation gilt der Grundsatz verstärkt. Die Hauptverhandlung selbst unterliegt der Konzentrationsmaxime: Das Urteil soll aus einem konzentrierten Verfahrensstoff heraus erfolgen. Kann eine Hauptverhandlung nicht an einem Tag durchgeführt werden, so darf zwischen den einzelnen Hauptverhandlungstagen nicht beliebig lange Zeit liegen, damit dem Urteil stets ein frischer Eindruck der Beweisaufnahme unterliegt.

 

Vor Gericht hat jedermann Anspruch auf rechtliches Gehör. Vor einer gerichtlichen Entscheidung ist also der Beschuldigte zu informieren und es ist ihm die Möglichkeit der Stellungnahme zu geben.

 

Insgesamt gilt der Grundsatz der Selbstbelastungsfreiheit. Ein Beschuldigter ist nicht verpflichtet, an seiner eigenen Überführung mitzuwirken. Er hat insbesondere das Recht zu den Vorwürfen zu schweigen. Dies darf nicht zu seinem Nachteil ausgelegt werden.

 

Im gesamten Strafverfahren gilt der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Nicht geeignete, erforderliche oder im Einzelnen übermäßig belastende Eingriffe haben zu unterbleiben. Wenn die Sicherung des Verfahrens durch mildere Maßnahmen wie die Abgabe der Personalpapiere oder das regelmäßige Vorstelligwerden bei einer Polizeiwache gewährleistet werden kann, ist beispielsweise die Untersuchungshaft ausgeschlossen.

 

Verschiedene Einzelrechte, wie etwas jenes, sich von einem Verteidiger des Vertrauens vertreten zu lassen, werden aus dem Grundsatz des fairen Verfahrens hergeleitet. Woraus sich dieser Grundsatz ergibt und was im Einzelnen aus ihm folgt, ist noch nicht abschließend geklärt.

 

Zu beachten ist schließlich, dass eine Vielzahl dieser Grundsätze Einschränkungen oder Ausnahmen unterliegen, die sich mitunter daraus ergeben können, dass die Prinzipien miteinander kollidieren.

 

 

III.  Der Aufbau der Strafprozessordnung

 

Erstes Buch

 

Das erste Buch enthält allgemeine Vorschriften, die systematisch für sämtliche Verfahrensabschnitte wie das Ermittlungs-, Haupt-, oder Rechtsmittelverfahren von Bedeutung sein können.

 

So wird zunächst die örtliche Zuständigkeit geregelt. Bzgl. der sachlichen Zuständigkeit ist zusätzlich das Gerichtsverfassungsgesetz heranzuziehen.

 

Es ist festgelegt, in welchen Fällen ein Richter nicht entscheiden darf, obwohl er eigentlich zuständig wäre. So ist ein Richter naheliegenderweise ausgeschlossen, der selbst Opfer der mutmaßlichen Tat wurde, enge Verwandtschaftsbeziehungen zu Opfer oder Beschuldigtem hat oder aber mit dem Verfahren etwa in ermittelnder oder verteidigender Rolle vorbefasst war.

 

Von besonderer Relevanz sind ebenfalls die im 1. Buch behandelten Rechte und Pflichten von Zeugen im Strafverfahren. Wer von der Staatsanwaltschaft oder dem Gericht als Zeuge in einem Strafverfahren geladen wird, hat zu erscheinen und auszusagen – es sei denn es bestehen Zeugnis- oder Auskunftsverweigerungsrechte. Mittlerweile gilt diese Pflicht auch bei der Polizei, sofern diese den Zeugen im Auftrag der Staatsanwaltschaft zur Vernehmung lädt. Der Zeuge muss wahrheitsgemäß aussagen, sonst macht er sich (nicht nur bei unwahrer Aussage vor Gericht) regelmäßig strafbar.

 

Immer bedeutender ist die Rolle Sachverständiger in Strafverfahren geworden, welche im Siebten Abschnitt des 1. Buches behandelt wird. Entsprechend der Pflicht, das Gutachten unparteiisch zu erstatten, können Sachverständige aus denselben Gründen wie Richter abgelehnt werden, beispielsweise wegen Besorgnis der Befangenheit. Sachverständige müssen eine besondere Sachkunde haben, die dem Gericht typischerweise fehlt.

 

Sodann werden die wichtige Grundrechtseingriffe („Zwangsmittel“) der körperlichen Untersuchungen beim Beschuldigten und der erkennungsdienstlichen Maßnahmen, wie die Abnahme von Fingerabdrücken sowie DNA-Analysen, geregelt. Es werden zahlreiche Ermittlungsmaßnahmen aufgeführt. Neben den bereits angesprochenen medizinischen Ermittlungsmaßnahmen geht es hier um „klassische“ wie die Wohnungs- oder Personendurchsuchung. Es findet sich ein breiter Fächer heimlicher Ermittlungsmaßnahmen wie der Einsatz verdeckter Ermittler oder der Telekommunikationsüberwachung. Letztere ist bspw. lediglich bei bestimmten Straftaten, die auch im Einzelfall schwer wiegen, zulässig. Auch finden sich computerunterstützte Ermittlungsmaßnahmen wie die Rasterfahndung oder die Online-Durchsuchung.

 

Regelungen über die Verhaftung und vorläufige Festnahme finden sich im Neunten Abschnitt des 1. Buches. Die Untersuchungshaft stellt den schwerwiegendsten Grundrechtseingriff bei einer wohlgemerkt nicht rechtskräftig verurteilten Person, für welche die Unschuldsvermutung zu gelten hat, dar. Als Voraussetzung muss daher neben dringendem Tatverdacht stets ein bestimmter Haftgrund wie die Fluchtgefahr und die Wahrung der Verhältnismäßigkeit vorliegen.

 

Ebenfalls enthalten sind die Rechte des Beschuldigten bei einer Vernehmung. Zu Beginn der Vernehmung ist der Beschuldigte zu belehren, dass er auch schweigen darf und dass er jederzeit das Recht hat, einen Verteidiger zu konsultieren. Bei Vernehmungen ist es verboten, die Willensfreiheit des Beschuldigten durch Verabreichung von Mitteln, Quälerei, Täuschung o.ä. zu beeinträchtigen.

 

Schließlich sind die Regelungen über die Verteidigung im 1. Buch enthalten. Jeder Mensch, der Beschuldigter in einem Strafverfahren wird, darf sich von einem (oder bis zu drei) Verteidiger(n) seiner Wahl verteidigen lassen. Hierüber ist der Beschuldigte vor seiner Vernehmung zu belehren. Als Verteidiger können Beschuldigte insbesondere Rechtsanwälte, Rechtsprofessoren und im Rahmen von Steuerstrafverfahren auch Steuerberater, Wirtschaftsprüfer und vereidigte Buchprüfer wählen. Die Verteidigung beinhaltet etwa die Möglichkeit, anhand des Inhalts der Ermittlungsakte eine Verteidigungsstrategie zu entwickeln, Erklärungen nicht selbst, sondern ausschließlich über den Verteidiger abzugeben, eigene Ermittlungen über den Verteidiger durchführen zu lassen, usw. Dem Verteidiger steht stets ein Anwesenheitsrecht zu, bspw. bei Vernehmungen. Ist der Beschuldigte in Untersuchungshaft, hat der Verteidiger ungehinderten Zugang zu seinem Mandanten zu erhalten. Wird eine Person einer schwerwiegenden Straftat beschuldigt oder wird gegen sie ein Haftbefehl vollstreckt, die keinen Verteidiger hat (bspw. weil keine finanziellen Mittel hierfür vorhanden sind), so wird dieser Person ein Pflichtverteidiger (nach der Möglichkeit einen bestimmten gewünschten Verteidiger zu benennen) beigeordnet.

 

Die Verteidigung schützt den Beschuldigten vor unberechtigten oder unverhältnismäßigen Eingriffen in seine Rechte und soll helfen, eine „Waffengleichheit“ zwischen Angeklagtem und anklagender Staatsanwaltschaft herzustellen.

 

Zweites Buch

 

Aus dem zweiten Buch ergibt sich der Ablauf des Strafverfahrens: Bei Anhaltspunkten für eine Straftat müssen Ermittlungen aufgenommen werden. Herrin des Ermittlungsverfahrens ist die Staatsanwaltschaft. Sie wird dabei durch die Polizei unterstützt. Faktisch übernimmt die kriminalistisch besser geschulte, personell und technisch besser ausgestattete Polizei in den allermeisten Bereichen der Kriminalität die Sacharbeit, bis die Fälle „ausermittelt“ sind. Bei hinreichendem Tatverdacht ist die Staatsanwaltschaft nun verpflichtet, Anklage zu erheben. Nur wenn es opportun erscheint, etwa wegen geringer Schuld bei Ersttätern im Bereich einfacher Vergehen oder aber bei der Erfüllung von Auflagen, kann von einer Anklage abgesehen und das Verfahren eingestellt werden. Die Anklage ist Voraussetzung für ein gerichtliches Verfahren, den eigentlichen Strafprozess. Dieser gliedert sich in das Vor-, Zwischen-, und Hauptverfahren. Das Vorverfahren ist das bereits erläuterte Ermittlungsverfahren bis zur Anklageerhebung. Im Zwischenverfahren entscheidet das zuständige Gericht, ob das Verfahren eröffnet wird und es zur Hauptverhandlung kommt. Ist das Gericht, anders als die Staatsanwaltschaft, der Auffassung, es bestehe kein hinreichender Tatverdacht, so ergeht kein Eröffnungsbeschluss und das Verfahren endet. Freilich kann die Staatsanwaltschaft versuchen, hiergegen mittels einer sofortigen Beschwerde vorzugehen, um doch noch eine Hauptverhandlung zu erreichen.

Kommt es zur Hauptverhandlung, wird der Ablauf dieser, also die Vorbereitung und Durchführung von der Anklageverlesung über die Beweisaufnahme bis zum Urteil detailliert im 2. Buch geregelt.

 

Aufgrund einer Belastung der Justiz mit einer Vielzahl teils auch komplexer Verfahren wird eine bedeutende Zahl von Strafverfahren durch eine Urteilsabsprache, einen „Deal“, verkürzt. Für ein Geständnis des Angeklagten wird eine mildere Strafe in Form einer voraussichtlichen Ober- und Untergrenze der zu verhängenden Strafe zugesagt. Da derlei Verständigungen mit vielen Grundsätzen des Strafverfahrens kollidieren, zu falschen Geständnissen führen können und die engen gesetzlichen Voraussetzungen teilweise ignoriert werden, erfahren die Absprachen vielfach Kritik.

 

Drittes Buch

 

Das Dritte Buch behandelt die Rechtsmittel im Strafverfahren, also insbesondere die Berufung, die Revision und die Beschwerde (ordentliche Rechtsbehelfe). Die Berufung, welche nur gegen die Urteile der Amtsgerichte zulässig ist, stellt eine zweite Tatsacheninstanz dar. Grundsätzlich ist noch einmal eine vollständige Beweisaufnahme durchzuführen. Mit der Berufung können die amtsgerichtlichen Urteile also umfassend, d.h. in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht überprüft werden.

 

Mittels der Revision werden Urteile nur noch auf Rechtsfehler geprüft.

 

Die Revision ist zulässig gegen erstinstanzliche Urteile der Amtsgerichte, Landgerichte und Oberlandesgerichte sowie gegen die zweitinstanzlichen Berufungsurteile des Landgerichts. Dies bedeutet vor allem, dass bei schwerwiegenderen Vorwürfen, welche in erster Instanz direkt vor den Landgerichten verhandelt werden, nur eine Tatsacheninstanz zur Verfügung steht.

 

Die Beschwerde ist ein Rechtsbehelf, der sich nicht gegen Urteile richtet, sondern mittels dessen einzelne Beschlüsse oder Verfügungen angegriffen werden können.

 

Viertes Buch

 

Rechtsfrieden soll insbesondere durch Rechtskraft erreicht werden. Gleichwohl kann es Ausnahmefälle geben, in denen die Aufrechterhaltung einer rechtskräftigen Verurteilung oder eines rechtskräftigen Freispruchs nicht gerecht, sondern schlicht unerträglich wären. Solche Ausnahmefälle sollen durch das im Vierten Buch behandelte Wiederaufnahmeverfahren gelöst werden. Nur unter den engen dort geregelten Voraussetzungen kann die Wiederaufnahme eines rechtskräftig abgeschlossenen Strafprozesses möglich sein. Bei der Wiederaufnahme zugunsten eines Verurteilten ist das Beibringen neuer Tatsachen oder Beweismittel von besonderer Relevanz. Zu Ungunsten des Angeklagten kommt eine Wiederaufnahme insbesondere bei einem Geständnis in Betracht.

 

Fünftes Buch

 

Das Fünfte Buch behandelt die Beteiligung des Verletzten am Strafverfahren. Der Verletzte, also das mutmaßliche Opfer einer Straftat, hat in der strafprozessualen Gesetzgebung besondere Aufmerksamkeit bekommen. Während Opfer früher im technischen Sinne als Zeugen eben Beweismittel waren, hierfür vor Gericht bei Bedarf gehört wurden und im Übrigen keine besondere Behandlung oder Fürsorge erfahren haben, hat sich dies erheblich geändert. Insbesondere bei Gewalt- und Sexualdelikten stehen dem mutmaßlichen Opfer mittlerweile umfassende Beteiligungsmöglichkeiten an dem Strafverfahren zu. Mittels der Nebenklage kann das Opfer selbst oder über einen Anwalt eigene Fragen und Beweisanträge stellen oder Rechtsmittel einlegen. Dem Opfer ist hierdurch auch die gesamte Zeit die Anwesenheit im Verfahren gestattet.

Mittels des Adhäsionsverfahrens können Opfer ihre zivilrechtlichen Ansprüche im Strafverfahren mit durchsetzen.

Auch grundsätzlich stehen dem Oper einer Straftat diverse gesetzliche Möglichkeiten offen, etwaigen Beeinträchtigungen durch das psychisch belastende Strafverfahren vorzubeugen, etwa die Begleitung vor Gericht durch eine Vertrauensperson, einen Anwalt oder die psychosoziale Prozessbegleitung. Auch Informationsrechte kommen dem Opfer zu.

 

Im Fünften Buch enthalten ist ebenfalls die Privatklage bzgl. kleinerer Vergehen des Strafgesetzbuchs, in welchen – unter Durchbrechung des Offizialprinzips – aufgelistete Vergehen von Privatpersonen auf dem Rechtsweg verfolgt werden dürfen. Die systemfremde Privatklage ist in der Rechtspraxis von sehr geringer Relevanz.

 

Sechstes Buch

 

Das Sechste Buch behandelt besondere Verfahrensarten.

 

So besteht über das Strafbefehlsverfahren bei einfachen und weniger schweren Fällen, die primär auf Geldstrafe abzielen, die Möglichkeiten ein Strafverfahren auf schriftlichem Wege abzuschließen. Wenn die Staatsanwaltschaft bei einem ausermittelten Fall einen Strafbefehl beantragt, entscheidet der Richter, ob er diesen – wenn keine Bedenken bestehen – erlässt, oder ob er ihn ablehnt, weil er, anders als der Staatsanwalt, keinen hinreichenden Tatverdacht sieht. Weicht der Richter von der rechtlichen Beurteilung im Strafbefehlsantrag ab, oder hält grundsätzlich eine Hauptverhandlung zur Klärung des Vorwurfs für nötig, so beraumt er eine Hauptverhandlung an.

 

Folgt der Richter dem Antrag der Staatsanwaltschaft und erlässt den Strafbefehl, so kann der Angeklagte entscheiden, ob er den Strafbefehl akzeptiert, der dann rechtskräftig wird und einer Verurteilung nach einer Hauptverhandlung weitgehend gleichsteht. Der Angeklagte kann aber auch Einspruch einlegen, so dass es doch zu einer Hauptverhandlung kommt, in der dann eine normale  Beweisaufnahme entsprechend dem Mündlichkeitsprinzip stattfindet.

 

In Verfahren mit schuldunfähigen oder dauerhaft verhandlungsunfähigen Tätern kommt das Sicherungsverfahren in Betracht. Es zielt statt auf Strafe auf die selbständige Verhängung von Maßregeln der Besserung und Sicherung. Sinngemäß gelten die Regelungen über die Hauptverhandlung. Allerdings darf unter bestimmten Voraussetzungen auch in Abwesenheit des Beschuldigten verhandelt werden.

 

Das beschleunigte Verfahren soll für weniger schwer wiegende Fälle, die auf Grund eines einfachen Sachverhalts oder einer klaren Beweislage zur sofortigen Verhandlung geeignet sind, ein ausgedünntes Normalverfahren ermöglichen. Ladungsfristen sind verkürzt, der Einreichung einer Anklageschrift bedarf es nicht. Verschiedene Grundprinzipien des Strafverfahrens werden auch im Bereich des Beweisrechts eingeschränkt.

 

Von zunehmend größerer Bedeutung sind die (unter anderem in diesem Buch stehenden) Regelungen über das Verfahren bei Einziehung und Vermögensbeschlagnahme. Aufgrund einer umfassenden Reform und materiellen Ausweitung der Vermögensabschöpfung im Jahr 2017 und der weitgehenden Pflicht der Strafverfolgungsbehörden abzuschöpfende materielle Vorteile aus Straftaten schon im Ermittlungsverfahren zu sichern, ist dieser Bereich in der alltäglichen Rechtspraxis des Strafverfahrens angekommen.

 

Siebtes Buch

 

Nach der Rechtskraft einer Entscheidung über eine strafrechtliche Sanktion steht deren Vollstreckung. Diese wird im siebten Buch behandelt. Die Vollstreckung der Strafen und sonstigen Sanktionen liegt in den Händen der Staatsanwaltschaft.

 

Achtes Buch

 

Der technische Wandel der Zeit offenbart sich im Achten Buch, welches Schutz und Verwendung von Daten betrifft. Allerdings geht es hier nicht nur um die technische Datenverarbeitung, sondern auch um Akteneinsichtsrechte, welche freilich Datenschutzsphären berühren. Bedeutsam ist auch der Abschnitt über das staatsanwaltliche Verfahrensregister. Was hierin enthalten sein darf, gelöscht werden muss oder eben faktisch aufgeführt ist, prägt das Bild des Staatsanwalts über den jeweiligen Beschuldigten vor. Die grundsätzlichen und zeitlichen Beschränkungen des Rechts, Daten über eine Person zu erfassen, erfahren an dieser Stelle besondere Brisanz.

 

 

IV. Reformen der Strafprozessordnung

 

Die ursprüngliche Fassung der StPO stammt aus dem Jahr 1877. Stetig hat sich der Wandel der Zeit in dem Gesetzeswerk niedergeschlagen. In den Jahren der nationalsozialistischen Herrschaft wurden die Bürger- und Beschuldigtenrechte vielfach abgeschafft, ausgehöhlt, teilweise auch schlicht faktisch gemäß dem damaligen diktatorischen Willen angewandt. Erst durch die bundesrepublikanische Verfassungs- und Gesetzgebung kam es zu einer Wiederherstellung des Rechtsschutzes, welcher vor der NS-Herrschaft galt. Durch das im Mai 1949 in Kraft getretene Grundgesetz und die folgenden Konkretisierungen der geschaffenen Grundrechte in der StPO wurden zahlreiche der oben genannten Grundsätze ausdrücklich festgeschrieben und gestärkt.

 

Seitdem prägen immer wiederkehrende Themen die Reformgesetzgebung: Gesetze gegen Terrorismus, organisierte Kriminalität und zur Beschleunigung des Strafverfahrens schaffen neue staatliche Eingriffsmöglichkeiten, weiten die bestehenden aus und schwächen Beschuldigtenrechte. Zu nennen sind lediglich beispielhaft die Einführung der Möglichkeit der Telefonüberwachung im Jahr 1968, die Möglichkeit einer vollständigen Kontaktsperre zwischen Beschuldigtem und Verteidiger bei laufenden terroristischen Aktivitäten im Jahr 1977 und der große Lauschangriff im Jahr 1998.

 

Eher selten finden sich Reformen, welche die Rechtsstaatlichkeit im Sinne einer Stärkung der Beschuldigtenrechte zum Ziel haben.

 

Auch der technische und forensische Fortschritt hat zu zahlreichen Gesetzesänderungen wie der Zulassung von computergestützten Ermittlungsmaßnahmen, DNA-Analysen oder Standortbestimmungen von Mobilfunkendgeräten geführt.

 

Regelmäßig gestärkt werden die Verletztenrechte, also insbesondere Schutz- und Beteiligungsmöglichkeiten für Tatopfer. Freilich sind neue Opferregelungen nicht per se immer „richtig“. Zum einen ist Grundprinzip des Strafverfahrens die Unschuldsvermutung, so dass die Frage, ob jemand Opfer geworden ist oder ob jemand Opfer durch einen bestimmten Beschuldigten geworden ist, eigentlich erst durch rechtskräftiges Urteil zu klären ist. Opferreglungen bereits im Vorverfahren können präjudizielle Wirkungen zukommen. Zum anderen ist nicht ausgeschlossen, dass unbeabsichtigte Verfahrensveränderungen eintreten. Die Möglichkeit etwa, im Rahmen des Adhäsionsverfahrens aus der mutmaßlichen Tat erwachsene zivilrechtliche Ansprüche durchzusetzen, könnte aufgrund des finanziellen Anreizes zu einem anderen Prozess- oder Aussageverhalten führen, als wenn das Verfahren nur objektiv die Frage der Schuld klären würde.

 

Zunehmend häufig wird in letzter Zeit eine lediglich „symbolische Gesetzgebung“ im Bereich des Straf- und Strafverfahrensrechts kritisiert. Dem Gefühl von Unsicherheit – welches dem statistisch belegten Rückgang der Kriminalität gar nicht entspricht – soll durch stetig neue Straf- oder Strafverfahrensvorschriften begegnet werden. Diese Vorschriften sind – anders als etwa mehr Personal für Polizei und Justiz – zur Kriminalitätsbekämpfung ggf. wenig geeignet oder schaffen gar, durch die stete Behandlung der Thematik, neue Unsicherheitsgefühle. Die besonders intensiven Eingriffe des Staates in die Rechte der Bürger im Bereich des Strafverfahrens sollten darum Grund sein, den Reformeifer bzgl. dieses außergewöhnlich bedeutsamen Gesetzeswerkes aufmerksam kritisch zu begleiten.

 

Autor RA Dr. Tobias Lubitz. Zunächst abgedruckt in „StPO – Strafprozessordnung – Reihe Rechtsbildung“ mit freundlicher Genehmigung von RA Dr. Fabian Meinecke

 

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