Ermittlungen wegen „Rightcoding“?

Hamburger Ermittlungsbehörden nehmen aktuell Ärztinnen und Ärzte ins Visier, die nachträglich Diagnosen an die Prüfungsstelle übermittelt haben. Der Vorwurf: Beihilfe zur Untreue. "Abenteuerlich" nennt unser Partner Dr. Maximilian Warntjen diese Vorwürfe in der Ärztezeitung v. 18.5.2022.

Die Staatsanwaltschaft Hamburg hat unlängst gegen mehrere Vorstandmitglieder der AOK Rheinland/Hamburg Anklage erhoben (Ärztezeitung v. 13.1.2022). Der Vorwurf: Um zum Nachteil anderer Krankenkassen höhere Mittel aus dem Gesundheitsfonds zu erlangen, sollen die Beschuldigten Ärzte dazu angehalten haben, nachträglich Diagnosen zu korrigieren. Nun weiten sich die Ermittlungen aus, die Hamburger Staatsanwaltschaft nimmt auch die beteiligten Ärzte ins Visier. Es geht um Beihilfe zur Untreue im besonders schweren Fall in Tateinheit mit sozialdatenschutzrechtlichem Verstoß.

Den im Januar erhobenen Anklagen, über deren Zulassung nun eine Wirtschaftsstrafkammer des Landgerichts Hamburg entscheiden muss, liegt ein sozialgerichtlicher Rechtsstreit zwischen der AOK Rheinland/Hamburg und dem Bundesversicherungsamt (BVA) aus dem Jahr 2016 zu Grunde. In diesem ging es um die Frage, ob die AOK berechtigt war, nachträglich korrigierte Abrechnungsdaten, insbesondere Diagnosen, zu verwenden, um höhere Mittelzuweisungen aus dem sog. Morbi-RSA zu erhalten. Die Kasse akzeptierte damals im Zuge eines Vergleichs eine Millionenstrafe.

Die Hamburger Ermittler erheben nun auch gegen die Ärzte Vorwürfe, die seinerzeit dazu aufgefordert wurden, ihre Diagnosen zu überprüfen und ggfs. zu korrigieren. Die betroffenen Ärzte – dem Vernehmen nach soll es sich um deutlich über Hundert handeln – erhalten Anhörungsschreiben der Polizei Hamburg, in den ihnen zur Last gelegt wird, an den den AOK-Vorständen vorgeworfenen Manipulationen mitgewirkt und sich deshalb wegen Beihilfe strafbar gemacht zu haben. Der Hintergrund: Die Gemeinsame Prüfungsstelle der Ärzte und Krankenkassen Hamburg, die den Auftrag hat, die Einhaltung des Wirtschaftlichkeitsgebots zu überwachen, hatte seinerzeit Ärzte aufgefordert, zwecks Abwendung ansonsten drohender Prüfverfahren zu bestimmten Verordnungen die entsprechenden ICD-10-Kodierungen nachzutragen. Die meisten Betroffenen dürften sich damals zwar über den zusätzlichen Zeitaufwand geärgert, sich andererseits aber auch verpflichtet gesehen haben, der Aufforderung der Prüfungsstelle nachzukommen und die fehlenden Diagnosen per Fax zu übermitteln.

Aus juristischer Sicht muten die nun erhobenen Beihilfe-Vorwürfe abenteuerlich an. Die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts geht nämlich davon aus, dass Vertragsärzte im Rahmen von Wirtschaftlichkeitsprüfungen „besondere Mitwirkungspflichten“ haben: Es sei die Aufgabe des Vertragsarztes, so das BSG, bereits im Prüfverfahren – und nicht erst vor Gericht – Umstände anzugeben oder zu belegen, die für die Beurteilung der Wirtschaftlichkeit seiner Behandlungs- oder Verordnungsweise relevant sind und nur durch seine Mithilfe aufgeklärt werden können. Die Diagnose eines Patienten ist zweifelsohne ein solcher Umstand, denn von ihr hängt ab, ob z.B. die Verordnung bestimmter Arzneimittel wirtschaftlich war. Wenn der Vertragsarzt also nach entsprechender Aufforderung durch die Prüfungsstelle seine Abrechnungs- und Leistungsdaten überprüft und dabei feststellt, dass Diagnosen versehentlich nicht kodiert wurden, so ist kein Grund ersichtlich, weshalb er die fehlende bzw. korrekte ICD-10-Diagnose nicht nachträglich an die Prüfgremien übermitteln sollen dürfte. Mit „Upcoding“ hat das alles nicht zu tun – das nordrhein-westfälische  Gesundheitsministerium vertrat mit Blick auf den früheren Rechtsstreit zu Recht die Auffassung, es habe sich genau genommen um „Right-Coding“ gehandelt.

Es fällt nach alldem die Prognose nicht schwer, dass bei den nun gegen die Ärzte eingeleiteten Verfahren am Ende „nichts rauskommen“ wird. Allerdings ist Vorsicht geboten: Die Polizei legt den Anhörungsschreiben ein Formblatt bei, auf denen der Beschuldigte mittels Ankreuzen erklären kann, mit „der Anwendung des Strafbefehlsverfahrens durch Staatsanwaltschaft und Gericht einverstanden“ zu sein. Wer nur flüchtig liest kann den Eindruck gewinnen, auf diese Weise ließe sich das Strafverfahren rasch und ohne größere Folgen beenden. Es ist aber wichtig zu wissen, dass ein rechtskräftig gewordener Strafbefehl einem rechtskräftigen Urteil gleichsteht. Wer sich also mit dem Strafbefehlsverfahren einverstanden erklärt und gegen einen sodann ergangenen Strafbefehl keinen Einspruch einlegt, ist am Ende rechtskräftig verurteilt. Andere Behörden, wie zum Beispiel Ärztekammer oder Kassenärztliche Vereinigung dürfen die Feststellungen des Strafbefehls dann als Grundlage nutzen, wenn sie prüfen, ob berufs- und/oder disziplinarrechtliche Verfahren einzuleiten sind.

Nachdem die Beihilfe-Vorwürfe wie gesehen juristisch auf eher tönernen Füßen stehen, dürften die Ärzte gut beraten sein, sich in den Verfahren zu verteidigen und keinen Strafbefehl zu akzeptieren.

Von

Dr. Maximilian Warntjen

Dr. Maximilian Warntjen

Fachanwalt für Strafrecht

Fachanwalt für Medizinrecht

030 551 531 11

E-Mail